http://d-frag.de/blog/2005/08/29/mule
Ein Blogartikel von ugh – alias blauer Bonzoid – aus dem Jahr 2005, dank Internetarchiv wieder geborgen.
Wie viele Stunden meiner Jugend mich dieses Spiel wohl gekostet hat? Auf den ersten Blick versteckt es sich unscheinbar hinter einer kultigen Klötzchengrafik und einem Pieps-Sound, der nur Liebhabern und Irren gefallen kann (C64-Original und Remix). Auf den zweiten Blick entpuppt es sich als nettes Spiel. Erst danach wird man in den Bann gezogen: Die seit 1983 unübertroffene Wirtschaftssimulation, bei der immer vier Spieler – nennen wir sie Marktteilnehmer – gegeneinander antreten. Maximale Spielfreude erreicht man mit vier eingespielten Menschen, notfalls übernimmt der Computer aber auch die Rolle der Mitspieler.
Die Spielrunde beginnt mit der Zuteilung von kostenlosem Land. Abgesehen von dieser sozialistisch angehauchten Landreform spielt sich alles Weitere in einem knallharten kapitalistischen Marktsystem ab. Die vier Marktteilnehmer können mit Hilfe der Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital (hier arbeiten allerdings die M.U.L.E.s, die man sich kaufen muss) vier verschiedene Arten von Gütern produzieren. Jedes Gut – abgesehen von den nur für den Export vorgesehenen Kristallen – hat eine Funktion innerhalb der Produktion und bleibt im internen Markt: Nahrung (food) benötigt der Marktteilnehmer, um Zeit zu haben; Energie benötigen seine M.U.L.E.s zum Produzieren und Erz (smithore) benötigt der Shop (entspricht etwa dem Staat), um M.U.L.E.s zu produzieren.
Die obigatorische Versteigerung nach der Produktions- und Ereignisphase verläuft immer mit allen Marktteilnehmern und dem Shop. Herrscht eine Knappheit eines Guts, so steigt sein Preis. Allerdings setzt der Shop den Mindestpreis: Man kann immer an den Shop verkaufen. Man kann auch vom Shop kaufen, allerdings nur, wenn er noch Güter zur Verfügung hat. Da dieser allerdings längst nicht immer Bestände hat, verläuft die Preisbildung oft nach oben unbeschränkt. Konsequenz: Die einen zahlen sich doof und dämlich, die anderen verdienen sich eine goldene Nase.
Und hier beginnt es, so richtig Spaß zu machen: Halten alle Marktteilnehmer zusammen, dann kann man den Shop ausnehmen und die Preise künstlich steigern – alle Marktteilnehmer bilden ein Kartell. Doch wozu zusammenhalten? Man erlebt oft den Pferdefuß an der Preisbildung im Oligopol: Einen Ausreißer gibt es immer dann, wenn es etwas zu verdienen gibt – Moral wird da klein geschrieben.
Und dann die Entscheidung: Verkauft man seinem Mitspieler Energie (wofür man irre viel Geld bekäme) oder lässt man ihn versauern und beschert ihm damit einen Produktionsausfall in der nächsten Runde (was einem selbst kein Geld einbrächte, aber den Mitspieler um Meilen zurückwirft)? Die Entscheidung ist schnell gefasst, wenn es noch einen weiteren Anbieter von Energie gibt: Wer zuerst den tieferen Preis verlangt, darf verkaufen. Fazit: Man kann irre viel Geld machen, wenn der andere nur stillhält und man selbst zuerst verkauft. Das Vertrauen in den konkurrierenden Mitspieler ist allerdings nur mäßig.
Hat man viel Kapital, kann man zum Beispiel alles Erz aus dem Shop aufkaufen. Dann steigen Runde für Runde die Preise – man ist Monopolist. Es sei denn, ein Mitspieler verfügt ebenfalls über Vorräte. Aber hier zählt der Gemeinschaftssinn, ausgelöst durch gemeinsame Gewinnerwartungen zumindest, bis auch hier einer aus der kurzfristigen Zweckgemeinschaft einen Vorteil gegenüber den anderen erhaschen kann.
M.U.L.E. ist nach über 20 Jahren noch immer eines meiner Lieblingsspiele, da es die Gemeinheit des Marktes wunderbar abbildet und durch seine vier zeitgleichen Akteure den ungefilterten Charakter seiner Mitmenschen offenbart. M.U.L.E. ist Kapitalismuskritik pur – plötzlich versteht man die Wirtschaftsnachrichten ganz anders – oder ist es doch so, dass der Egoismus eines jeden die Gemeinschaft am meisten voranbringt (vgl. das Gefangenendilemma)?
Wer hat eigentlich gewonnen? Am Ende gibt es zwar einen Sieger (errechnet aus angehäuftem Geld, Boden und Gütern), jedoch wird auch gefragt, wie weit die gesamte Kolonie gekommen ist. Und die kommt nicht weit, wenn man seine Mitspieler aushungern und zugunsten des Preises lieber Waren vergammeln lässt – halt wie im wirklichen Leben!
Professor C. Ritson, einer der führenden Agrarökonomen Europas, verteidigt die Vernichtung von Lebensmitteln: Die Produzenten würden davon profitieren, die Konsumenten nicht wesentlich darunter leiden. Was hier aufeinanderprallt, sind zwei unterschiedliche Prinzipien. Grundlage der Lebensmittelvernichtung in der EU ist letztendlich das utilitaristische Prinzip, wonach jede Maßnahme gerechtfertigt ist, solange sie die Summe des Nutzens der Beteiligten erhöht.
(Stefan Mann und Lothar Schaechterle)
Zum Schluss noch eine Kuriosität: Spielen alle vier Spieler zugunsten eines Spielers zusammen, kann man einen Kapital-Overflow erleben: Geht der Geldbetrag über 65535 hinaus, darf man wieder bei 0 anfangen. Ob dies das revolutionäre Element im Spiel ist? Nehmt den Bonzen alles? Andererseits muss man sich darüber keine Gedanken machen, denn es kommt im normalen Spiel nie vor. Wer gönnt schon seinem Nächsten etwas, wenn man selbst einen kleinen Vorteil daraus machen kann?
Wer nicht zufällig einen Atari 800 mit vier Joysticks sein Eigen nennt, kann M.U.L.E. auch mit einem C64-Emulator oder Atari-Emulator spielen oder auf remakes.org nach einem Remake Ausschau halten. Die Regeln findet man auf World of M.U.L.E.
Viel Spaß bei M.U.L.E. wünscht der blaue Bonzoid.
[Zum Autor: Der blaue Bonzoid hat sich sein Pseudonym selbst ausgesucht und Schuhgröße 44. Erstaunlicherweise hat er sich um einen Gastbeitrag gerissen und es geschafft, möglichst viele volkswirtschaftliche Links darin unterzubringen.]